Sonntag, 28. September 2008

Esther’s Easter

Esther neigt zu Exhibitionismus und öffnet sich wie eine Blume
Eigentlich war Esther eine ganz gewöhnliche Hausfrau. Sie lebte in einer gesichtslosen Vorortssiedlung von Bern – noch vor nicht allzu langer Zeit hatte es hier nach Dung gerochen, nach Hühnerscheisse und nach Stroh. Bümpliz war im Grunde der Prototyp einer durch Reichtum träge gewordenen suburbanen Gegend, in der aber die Bauernhöfe allmählich uniformen Wohnsiedlungen wichen und eine multikulturelle Gesellschaft anzogen, die verzweifelt nach Existenz suchte. Im Grunde schämte Esther sich ihrer Herkunft und verschwieg sie ihren zahlreichen Lovern (es waren mittlerweile an die 15) tunlichst. Ralph war der erste, der ihr wirklich nahe kam – so nahe, dass sie ihn sogar ihrem Vater vorstellte, der in ebendiesem Vorort, Bümpliz, ein kärgliches Dasein fristete. Bümpliz im Alter ist keine Vision, liebe deutsche LeserInnen, die Ihr ja mittlerweile in Scharen in die Schweiz einwandert. Arbeiten kann man gut in diesem Land, null Problemo, nehmt Euch ein Beispiel an mir. Aber wenn’s ans Altern geht… ist man oft einsam, ausgebüxt, down and out somewhere, if ya know what ah mean…
Esther war nicht unattraktiv. Sie war aber in jeder Hinsicht Durchschnitt – auch, was ihre Figur anging. Einen vollkommen unauffälligen Hintern nannte sie ihr Eigen, nicht flach, aber auch nicht kugelrund, Ihre Brüste kämpften ein wenig mit der Schwerkraft, wie Millionen von Brüsten auf unserer Welt das tun, und ihr Bauch war alles andere als flach. Esther pflegte ihre Füsse sorgfältig, trimmte jeden Sommer ihr Schamhaar auf „bikinikompatibel“ und rasierte sorgfältig ihre Achselhöhlen. Vielleicht war es gerade dieses Unauffällige, das die Blicke so manchen Mannes aus Kroatien, der Tschechoslowakei, aus Ungarn oder Dresden an ihr haften liess. Esther war sich dessen bewusst, trug aber trotzdem keine extraweiten Pullis oder Pluderhosen, wenn sie in der Migros einkaufen ging. Nein, sie machte sich sogar einen Spass daraus, sich in hautengen Leggings zu zeigen, ihren Hausfrauenbusen unter nicht ganz blickdichten T-Shirts zu verstecken und auf ihre zwischendurch etwas verhärmten Lippen Gloss aufzutragen. Du ahnst es, lieber Leser: Esther war eine Exhibitionistin, und zwar eine erster Güte. Bei Licht und nicht gezogenen Vorhängen zog sie sich sorglos um, an Familienanlässen liess sie wie zufällig Fotos auf dem Salontisch liegen, die sie nackt während der ersten Schwangerschaft zeigten, und sie fand es reizvoll, die eingeschriebene Post (meist Schuldscheine) in Slip und BH entgegen zu nehmen. „Some kinda naughty“, würde der Engländer sagen, „kinda slutty“ der Amerikaner, „Schlampe“ der Deutsche.
Seit Jahren hatte Esther keinen Sex mehr gehabt. Drei Kinder hatten sie etwas ausgeweitet, und deren Erzeuger hatte das Weite gesucht, als er eines Tages entdeckte, dass er 45 war und das Leben wohl mehr bereit hielt als einen Hängebusen, eine Muschi, die er in- und auswendig kannte und Nachthemden, die bereits über Dutzende von Malen durch die Waschmaschine gegangen waren. Auch Esthers Küche (Rösti, Knöpfli, Geschnetzeltes nach Züricher Art und Aprikosenkuchen mit Fertigteig) reizte ihn nicht mehr sonderlich. Beim Masturbieren in tiefer Nacht stellte er sich immer häufiger vor, seine „Milchkuh“, wie er Esther „zärtlich“ nannte, würde von den Händen eines andern massiert, ihr Hintern von einem grösseren, schwereren Penis gestossen und ihr Mund von einem lüsternen Steuerberater gefickt. Oder so.
Ralph hatte mit ihr also drei süsse Kinder gezeugt – zwei Jungs und ein Mädchen – und war seinen Vaterpflichten auch über Jahre tapfer gefolgt. Dann eben hatte ihn diese Midlife-Crisis zerrissen und er überliess Esther in Gedanken immer häufiger anderen. Auch Esther hatte sich von ihrem Ralph innerlich entfernt und zeigte sich der Nachbarschaft auf dem Balkon, am offenen Fenster oder im Keller des bescheidenen Mehrfamilienhauses. Das blieb nicht ohne Wirkung. Immer mal wieder wurde sie auf offener Strasse angesprochen, und Esther fühlte sich endlich begehrt. Sie kokettierte mit den Männern im Quartier, liess aber nicht gleich jeden an sich heran – allzu billig wollte sie denn doch nicht erscheinen. Aber dann, als auch Klein-Sabine das Haus Richtung Kindergarten verliess, liess sie sich vom Hauswart auf der Werkbank vögeln, zwischen Elektrobohrer und Schaubstock. Gleichgültig und hart ging er vor, als wäre Esther eine Gummipuppe, spritzte auf ihrem Bauch ab und entfernte sich mit verächtlichem Grunzen. Esther war tief verletzt, nahm sich aber vor, sich am Rest der Männerwelt – aber auch an ihrer Familie – zu rächen, indem sie sich immer öfter spontaner Lust hingab, unter dem Motto „wenn doch bloss einer käme und mich nähme“. Sie kamen, die Männer, und sie nahmen sie. Feurig, gelangweilt, locker aus dem Stand, von hinten, in Missionarsstellung, auf dem Küchentisch oder auf der fleckigen Couch. Esther öffnete sich. Wie eine Blume. Wieder und wieder. Wurde unersättlich, konnte den nächsten Fick kaum erwarten.
Ralph, der hie und da nach seinen Kindern sah, entging Esthers Wandlung nicht. Sie wirkte heiss, fickrig und obszön. Ralph aber liess sie nicht an sich ran. Sollte er doch ein wenig leiden – bestimmt war er die ganze Zeit über hinter fremden Frauen her. Als dann aber am Abend, nach dem Handballtraining, am Stammtisch das Gespräch auf Esther kam und die halbe Mannschaft sich gegenseitig zuzwinkerte, hatte Ralph Gewissheit. Sein Herz klopfte bis zum Hals; der Gedanke, dass seine „Milchkuh“ vom halben Team gestossen wurde, machte ihn geil wie ein Klawadickel. In der Nacht gab er sich erneut einem Masturbationstraum hin und stellte sich vor, seine Frau würde von mindestens 20 Männern genommen, reihum, gangbang pur. „Ja, fickt das Luder, packt ihre Titten“… so stöhnte er sich leise zum Orgasmus. Nebenan schnarchte leise seine Frau. Nein, im Schlaf sah sie nun wirklich nicht schön aus, mit leicht eingetrockneten, halb geöffneten Lippen, wirrem Haar und unnatürlich angewinkelten Armen. Ob sie wohl träumte? Ralph, dessen Penis sich einfach nicht beruhigen wollte, zog vorsichtig an der Verschnürung ihres Nachthemdes und legte ihre rechte Brust bloss. Sanft beschien der Mond die Wölbung. Ralph nahm seinen Penis erneut in die Hand und wichste vorsichtig. Jedes Mal, wenn Esther einen Schnarcher tat, zuckte er zusammen. „Sie sollen zwischen Deinen Ludertitten abspritzen, die Böcke“, flüsterte er, schloss die Augen und erträumte sich seine Esther mit feuchtglänzenden Lippen, die Zungenspitze knapp sichtbar, und zwischen ihren Brüsten der Trainer der Handballmannschaft.
Esther onaniert
Neulich hatte Esther damit angefangen, vor dem laufenden Laptop zu onanieren. Nicht etwa zu Bildern oder Filmen, wie wir das erwarten würden, sondern vor Texten. Chat -Texten. Hatte sie mal wieder einen virtuellen Traummann getroffen in einem der zahlreichen Foren, machte sie ihn gleich mal scharf mit ein paar Fotos. Nicht unbedingt sie selbst war darauf zu sehen, aber typähnliche Frauen mit Moppel-Hüften, einem grossen, aber etwas zu schweren Busen und mit dicht behaarter Muschi – eine Rarität hierzulande. Waren die Chat -Partner dann scharf, entledigte Esther sich bei Kerzenlicht ihrer Jeans und schrieb im Slip weiter. Ging es dann inhaltlich zur Sache („zeig mir Deine Rosette, Süsse“), bediente sie fortan mit der Rechten die Maus, mit ihrer Linken aber ihre dralle, heisse Cliti. Ganz sanft und gemächlich begann sie daran zu reiben und tippte Obszönitäten ins Internet – mit den verbleibenden fünf Fingern aber deutlich langsamer als mit dem Zehnfingersystem. Mit nacktem Hintern rutschte sie auf dem Stuhl hin und her und realisierte immer mit Erstaunen, wie rasch sie bei dieser heimlichen Tätigkeit feucht, ja nass, wurde. Wenn sie jemand dabei beobachtet hätte… behüte, oh Lord, behüte… Die Schweinereien, die da über den PC in unbekannte Stuben flimmerten, waren um ein Vielfaches härter als das, was Esther in verschiedenen Männerbetten erlebt hatte („Ich schieb ihn Dir ganz tief in den Schlund, Luder“ oder etwa „mach die Beine breit, Schlampe, wir besorgen es Dir zu Dritt“). Esther wusste sehr wohl, dass Männer in höchster Erregung zu einer Vergröberung der Sprache neigen – weil es sie geil macht. Mit „Luder „ oder „Schlampe“ konnte sie daher problemlos umgehen.
Esther lässt sich die Brüste bemalen
Dann ging ihr diese Oster-Idee durch den Kopf. Esthers’ Easter. Eiermalen. Genau. Ob es Männer gab in der näheren Umgebung, die etwas dafür bezahlen würden, wenn sie Esthers Brüste bemalen durften? Esther wurde ganz heiss bei der Vorstellung, dass ein feuchtes Schwämmchen oder eine Pinselspitze ihre Brüste kitzelte. Sie präsentierte die Idee in ihrem Blog und illustrierte alles, um den Reiz zu erhöhen, mit ein paar Body Painting Photos, die sie im Internet gefunden hatte. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten, von Gronau an der Dinkel über Zürich Oerlikon bis zu den Pariser Banlieues. Esthers Abenteuer wurden verfolgt – EU- bzw. europa- bzw. weltweit. Es meldeten sich aber auch Männer aus der direkten Nachbarschaft, waschechte Bümplizer Gärtner, Automechaniker und Lehrer. Mit Herzklopfen beschaffte Esther sich Body Painting Farben, Zeitungen, Pinsel unterschiedlichster Art – und, selbstverständlich, ein paar Schwämmchen. Am Mittwoch Nachmittag war es dann so weit. Um 14:00 Uhr klingelte es an Esthers Haustür, und Herr M. bat um Einlass. Er stellte sich als Quartiergärtner vor und schilderte atemlos, dass er schon seit Jahren eine Frau suche, die sich Forsythien, ein paar Grasbüschel und kleine knospende Äste auf die Brüste malen liess. Esther führte ihren ersten Besucher ins gut beheizte Schlafzimmer und wies mit einer theatralischen Handbewegung auf die Farbtuben, Pinsel, Wasserschalen und Schwämmchen. Herr M. zitterte vor Erregung, während sein Modell ihre Bluse aufknöpfte und den BH auszog. Esthers schwere Hänger überwältigten den Mann völlig und er fuhr mit dem Rücken des linken Zeigefingers über ihre Brustwarzen. Dann machte er sich ans Werk. Mit zwischen den Lippen eingeklemmter Zunge bemalte er Esther mit allem, was die Natur (oder das Bild in seinem Kopf davon) hergab. Er ummalte ihre Nippel mit Rosenknospen, zauberte mit dem kleinsten Pinselchen fein gerippte Blätter auf ihre Haut, und das sich rankende Geäst wirkte nahezu plastisch. Immer wieder begutachtete er sein Werk kritisch. Esther stellte sich lächelnd vor den Schlafzimmerspiegel und fühlte sich wunderbar. Herr M. verliebte sich zusehends in sein Werk; in seinem Herzen erwachte der Frühling. Dann klingelte es erneut. Herr M. konnte seine Enttäuschung nicht leugnen, bat aber Esther, ihre Brüste mit einem der Schwämmchen reinigen zu dürfen. Esther nickte ihm zu und betrat in voller Pracht den Korridor, wo sie dem nächsten Künstler die Tür öffnete. Es war Kuno, der Bierwagenfahrer. „Nana“, sagte dieser, und sonst nichts. „Nana“. Esther hiess ihn Platz nehmen auf dem Bett, während der Gärtner mit zuckendem Herzen ihre Brüste in den Originalzustand versetzte und Knospen, Blüten und Blätter mit dem feuchten Schwämmchen entfernte. Wortlos wusch er die Hände, legte einen Hunderterschein auf den Maltisch und zog mit hängendem Kopf von dannen. Kuno zauberte zwei schäumende Biergläser auf Esthers Brüste. Immer, wenn sie tief einatmete, schien das linke Glas überzuschwappen. Der Mann leckte sich mit der Zunge die Lippen und verbesserte das ohnehin schon strahlende Gelb mit einem der breiteren Pinsel. Dann griff er mit seiner grossen, schweren Arbeiterhand nach dem gemalten Glas. „Stop – nur malen, nicht grapschen“, forderte Esther, aber der Mann warf sie aufs Bett als wäre sie aus Holz. Dann vergrub er sein Gesicht in ihren Titten und saugte sich an Esthers rechten Brustwarze fest, wie ein kleines Kind. Ein angenehmes Prickeln durchfuhr sie – der Mann wollte anscheinend wirklich nicht mehr als sich an seinem selbst gebrauten Bier laben. Sobald er Esthers Brüste sauber geleckt hatte, klingelte es erneut – und der Quartierpfarrer stand vor der Tür. Mit etwas verlegenem Lächeln bat er um Einlass. Kuno drängte sich wortlos an ihm vorbei, mit farbverschmiertem Mund und hochrotem Kopf. Herr Herzog bemalte Esthers linke Brust mit einem smaragdgrünen Grundton, ihre rechte mit Kobaltblau. Dann trat er einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und bestaunte sein Werk. Mit dem kleinsten und feinsten Pinselchen trug er anschliessend kleine weisse Ovale auf, geometrisch perfekt, und reizte Esthers Nippel so bis zum äussersten.
Erneut trat der Pfarrer einen Schritt zurück, betrachtete Esther respektvoll und drückte ihr die Hand. Dann machte er sich wortlos von dannen. Der Pfarrer, der Quartierpfarrer, hatte Ostern begriffen.

[(c) by Anita I.]

Sonntag, 21. September 2008

Die Erzählerin

Erst einmal möchte ich mich vorstellen. Das gehört sich so. Mein Name ist Loretta. Vor wenigen Tagen bin ich 25 Jahre alt geworden; ich hasse Geburtstage. Ich bin 1.71 cm gross, habe schulterlanges dunkles Haar. Ich wünschte ich hätte ein paar zusätzliche Locken. Mein Gesicht ist ebenmässig, man sagt mir nach, ich hätte einen Touch von Carla Bruni. Das macht mich nicht unstolz. Ich habe einen langen Hals, der in einen eher schmalen Oberkörper mündet. Dafür sind meine Brüste im Verhältnis eher gross, was aber nichts schadet, wie ich in späteren Jahren herausgefunden habe. In der Pubertät hatte ich aber Probleme damit. Meine Hüften sind zu breit, finde ich – aber das sagt fast jede Frau, die ich kenne, zu sich selbst – und ich kenne viele. Voilà. Und sonst? Eher lange Beine, hübsche Unterschenkel, schön manikürte Füsse (meine Füsse sind meine Lieblingsregion).

Meine Arbeitslosigkeit hat mich zur irren Idee verführt, mich als Erzählerin anzubieten. Ich habe eine angenehme Stimme und war einfach mal gespannt, ob es Menschen gibt, die sich Zeitungsartikel, Gedichte, Kurzgeschichten, Romane und dergleichen vorlesen lassen. Siehe da: Mein Inserat hatte Erfolg. Umgehend hat sich per SMS Nino gemeldet – genauer gesagt, Ninos Mutter. “Mein behinderter Sohn wartet auf Sie”, schrieb sie knapp, “bitte antworten Sie umgehend”. Ich war gerührt. Da bemühte sich doch tatsächlich eine Mutter, ihrem Sohn im grauen Behindertenalltag etwas Abwechslung zu gönnen. Wobei ich hier klar stellen muss, dass der Behindertenalltag keineswegs grau sein muss. Meine langjährige Erfahrung im Sozialdienst hat gezeigt, dass sie es oft bunt treiben, die Rollstuhlgenossen, dass sie oft lustiger sein können als irgendwelche drögen Beamten, Vertreter oder Lehrer, die zwar alle Viere ungehindert bewegen können, aber mental eher auf Sparflamme eingestellt sind.

Aus unerfindlichem Grund hatte ich das stringente Berdürftnis, mich für die erste Begegnung mit Nino erotisch anzuziehen. Nein, pervers bin ich keinesfalls, aber... irgendwie... eine durchsichtige weisse Bluse und einen engen Rock wollte ich ihm gönnen, dem unbekannten Zuhörer. Meine vordergründigen Gedanken galten natürlich der Lektüre. Was sollte ich ihm denn vorlesen? Mehr zufällig griff ich mir Kästners “Fabian” aus dem Regal. Schriften für Erwachsene. Vage erinnerte ich mich daran, dass da irgendwo eine so genannte “Stelle” war in diesem Buch. Die Stelle, wo Fabian die Brustwarze einer Freundin massiert, und zwar so lange, bis sie gross und hart wird. Das wollte ich ihm geben, dem unbekannten Nino.



Das Mehrfamilienhaus im abgelegenen Quartier fand ich nicht so rasch.
Ninos Mutter führte mich gleich in die Küche, wo ich auf einem Holzschemel Platz nehmen musste. Die Wohnung war karg eingerichtet, karg, aber keinesfalls ärmlich. Sie bot mir eine Tasse Yin-Yang-Tee an und durchbohrte mich mit ihren Blicken, so, als wollte sie sagen “lass die Finger von meinem Sohn, Luder”. Ihre honigsüsse Stimme kontrastierte hierzu seltsam. “Er ist wirklich... krank”, sagte sie, “gelähmt, wissen Sie. Vom Hals an abwärts”. “Tetraplegiker?” fragte ich reflexartig. “Ach... Sie kennen sich aus? Nein, nein, nichts Neurologisches. Mein Sohn ist psychosomatisch gelähmt, verstehen Sie? Die Psyche beeinflusst den Körper...”. Sie hatte Tränen in den Augen.

Nino war auffallend hübsch. Die Zähne vielleicht etwas zu weiss, aber die dichten Augenbrauen, die hoch stehenden Wangenknochen und vor allem das lockige, dunkle Haar und der grosse Mund machten ihn unwiderstehlich. Nino war eine gepflegte Erscheinung. Er begrüsste mich mit einem freundlichen Kopfnicken; ich setzte mich ihm gegenüber auf den Stuhl, den seine Mutter bereit gestellt hatte. Nino sass auf einem blauen Rollstuhl, an dessen für mich sichtbare Seite ein altes Bravo-Poster aufgeklebt war. The Sweet. “Ich bin Glamrocker”, sagte Nino zu mir und lächelte geheimnisvoll. The Sweet. Klar. Ich erinnerte mich. War Nino schwul? Auch mich faszinierte die Band damals, vor allem die stilistische Wendung von Co-Co zu Ballroom Blitz und Hell Raiser. Brian Connollys unbestrittene Schönheit.

Etwas verlegen begann ich in meinem Buch zu blättern, Nino fixierte mich unentwegt. Er schien aufzuatmen, als seine Mutter den Raum verliess und die Tür mit einem Seufzer hinter sich schloss. Jetzt waren wir ganz allein, der Nino und ich. Ich entledigte mich meines Capes und ahnte, wohin er starrte. Männer. Ob behindert oder nicht. Männer. Ruhig und erwartungsvoll sass er auf seinem Stuhl. Ich begann, aus dem mitgebrachten Buch vorzulesen. Nino war ein konzentrierter Zuhörer. Nervös nestelte er an der bunten Häkeldecke, die seine Beine verbarg – anscheinend konnte er die Finger ein wenig bewegen. Dann kam sie, die Brustwarzenstelle in “Fabian”. Nino hielt den Atem an. “Lesen Sie das nochmals, bitte.” “Wie ein kleiner Junge”, dachte ich gerührt, “wie ein kleiner Junge”. Nachdem ich ihm die Stelle so oft vorgelesen hatte, wie er das wünschte (so an die 10 – 15 Mal), stand ich auf und strich meinen Rock glatt. “Du... hast doch auch Brustwarzen?” Die naive Bemerkung brachte mich zum Lachen. Ich hatte aber keine Lust auf weitere Provokationen, strich ihm mit leichter Hand über den Kopf und verabschiedete mich. Die Mutter nickte mir unter der Tür zu, reichte mir die Hand aber nicht zum Abschied. Ein leichtes Frösteln packte mich. Zuhause legte ich mich gleich ins Bett und dachte über mich nach. Was war denn über mich gekommen, mich diesem jungen behinderten Mann in durchsichtiger Bluse und engem Rock zu präsentieren? War ich von Sinnen? Drei weitere Antworten auf mein Inserat überflog ich in Eile – mit einem Mal hielt ich es für nicht mehr so wichtig, umgehend zu antworten.
Eine Woche später ging ich erneut zu Nino. Dieses Mal trug ich einen schlichten grauen Pulli und Jeans. Unter dem Arm trug ich den “Homo Faber”. Max Frisch. Nino war kerzengerade aufgerichtet; ein Spreuerkissen stützte sein Kreuz. Er wirkte, als hätte er seit Tagen auf mich gewartet. Er hatte etwas Anrührendes. Er musterte mich enttäuscht, wie mir schien; sein Blick streifte meinen gut verhüllten Busen und den Schritt der engen Jeans. Nein, Leser. Kein Camel Toe. Ich las die Stelle, an der die Tochter des Protagonisten an einem Epiduralhämatom stirbt. Nino hatte gleich Tränen in den Augen. “Lesen Sie mir nächstes Mal was Prickelndes. Bitte. Und... ziehen Sie sich bitte so an wie letzte Woche. Bitte.” Ich fühlte, wie ich rot wurde. Nino trug einen senfgelben Seidenpijama, der ihm ausgezeichnet ins Gesicht stand. Hatte er sich für mich schön machen lassen? Von seiner Mutter?

Mir schien, die Woche dauerte ewig, und mein Arbeitslosengeld reichte nicht für viel. Ich verbrachte die Abende zu Hause und träumte von Nino. Wie er wohl gewesen war in vollem Saft, voller Kraft? Ob er noch Jungmann war? Was, wenn ich ihn wirklich hoch kriegte? Den erregt keuchenden Nino, den zitternden Nino, dern verlangenden, geilen Nino? Langsam zog ich meinen Pulli aus, knöpfte den BH auf und liess ihn zu Boden fallen. Meine Brüste waren nicht von schlechten Eltern, wirklich nicht. Würde er daran lutschen wollen? Ich zog wieder die durchsichtige Bluse an und zwängte mich in den hautengen, schwarzen Rock.

Ich wagte es. “Nackt im Antiquariat” aus der Anthologie “die Schokospalte”. Erotik, mit etwas Literaturgeschichte verbrämt. War es das, wonach Nino gierte? Die Story um Herrn Meylan erregte ihn stark; ich merkte das an seinem Keuchen. Ich hielt inne, blickte prüfend zur Tür, liess das Buch sinken und knöpfte meine Bluse auf. “Komm her, komm...” Ninos Augen leuchteten. Er war nur noch Lust, Verlangen, Geilheit. Was doch ein paar nackte Frauenbrüste auf einen Heranwachsenden für Wirkung entfalten können... Seine angestaute Sexualität. Für mich war Nino etwas Wunderbares. Ungefährlich, weil gelähmt, aber doch strunzgeil und verlangend. Ich habe eher lange Nippel, wie man sich das bei schwarzen Frauen gewohnt ist, “suckable nipples”, wie der Ami sagen würde. Ich legte die “Schokospalte” auf den Stuhl und ging langsam auf Nino zu. Dieser öffnete den Mund; seine Zunge war zu sehen. Was machte ich da? Ungeahnt flink schnellte sein Kopf nach vorn; er erhaschte meine linke Brustwarze und begann inbrünstig zu saugen. “Ahhh, das schmerzt”, schrie ich wohl etwas zu laut. Augenblicklich waren draussen Schritte zu hören. Ich packte meinen Busen ein und konnte mich gerade noch rechtzeitig hinsetzen, als Ninos Mami die Tür öffnete. “Was lesen Sie da?” fragte sie neugierig. “Wir haben einfach gelacht”, antwortete Nino geistesgegenwärtig. “Ahhh, ein Scherz, hat sie gesagt.” Missbilligend starrte seine Mutter auf meine Bluse und deckte die Beine ihres Sohnes liebevoll zu.

Nino war bereit für Schärferes. Zu unmissverständlich war seine naturgemäss sparsame Körpersprache, zu verlangend sein Blick. Gefährlich konnte er mir ja nicht werden, der lahme Junge. Des Teufels Hörner stachen mich in den Hintern, als ich mich in der folgenden Woche vor dem Spiegel zurecht machte. Ein paar dezente Parfumspritzer, etwas Cajal, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. So mochte mich mein Ex-Lover am Liebsten. Ich ging aufs Ganze und zog mir ein himmelblaues T-Shirt über. “Titties”, stand da überflüssigerweise drauf. Um Nino einen besseren Zugriff zu ermöglichen, und um mich allen Eventualitäten zu stellen, klaubte ich einen lindgrünen weiten Rock aus dem Schrank, den ich seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Die übliche Teezeremonie mit Ninos Mutter liess ich geistesabwesend über mich ergehen. Diesmal trug ich einen Pasolini bei mir, dessen Umschlag ich vor der Frau tunlichst verbarg. Jaja, Belesener, auch Pasolini hat Erzählerinnen beschrieben. 120 Tage von Sodom. “Titties”, las Nino belustigt von meinem T-Shirt ab und liess das Wort auf seiner Zunge schmelzen. “Titties”. Seine Höflichkeit gebot ihm, erst mal Aufmerksamkeit zu mimen, und ich las ihm ein paar Quälereien vor. Die Folterungen im Hinterhof, von denen mir jedes Mal schlecht wird. Nino schien überhaupt nicht hin zu hören und fixierte gebannt meine Knie. Auch Frauenknie können Vulkane aufbrechen lassen in den Herzen Pubertierender. So geschah es auch. “Rück näher”, sagte er heiser, und ich folgte seinem Wunsch. “Schieb Deinen Rock nach oben... bitte.” Ich folgte seinem Wunsch. Ach ja, Eingangs habe ich ganz vergessen, mein Schamhaar zu beschreiben. Es ist hübsch gekraust wie bei den meisten Europäerinnen, die sich nicht rasieren, und in der Mitte, an der Spalte, etwas dichter. Mein Schamhaar ist warm, weich und flaumig. Gott, oder wer auch immer, hat es gut gemeint mit mir. Ich wusste, dass an den Rändern meines knappen Höschens ein wenig Haarpracht zu sehen war. Erst in der kommenden Woche hatte ich einen Bikinizonen-Termin bei meiner Kosmetikerin. Nino starrte, ich öffnete langsam die Beine. Dann setzte ich erneut zum Lesen an. “Lass diesen Scheiss Pasolini”, sagte Nino plötzlich, heftig erregt, “lass überhaupt alles. Ich will Dich.” Zu meiner grenzenlosen Verwunderung erhob er sich aus dem Rollstuhl und kam wankenden Schrittes auf mich zu. “Zeig Dich mir”, forderte er mich auf und packte mich an den Schultern. Meine Überraschung war grösser als die Angst, dass er mir etwas tun könnte. In seiner tollpatschigen Art wirkte Nino rührend – dennoch war ich gespannt auf ihn. Das Ungewöhnliche an der Situation machte mich an: Dieses Jungenzimmer mit den Glamrockern an allen Wänden – von Gary Glitter über T. Rex bis Slade und Suzi Quatro fehlte wirklich nichts. Hinzu kamen die durchgelegene Matratze, die zwei kleinen Fenster, der mausgraue Flokatiteppich... und diese Mutter, Ninos Mutter, die – einem Zerberus gleich – den Hades bewachte. Den Hades, jaja, Ninos Zimmer. Heiss war es jedenfalls – mir rannen Schweissperlen aus den Achseln. “Ich kann Dich riechen”, knurrte Nino hungrig. Für den Bruchteil eines Augenblicks erinnerte er mich an Hannibal Lecter (“i can smell your pussy”). Roch er meinen Achselschweiss? War es möglich, dass die psychosomatisch bedingte Lähmung, die jetzt aufgehoben schien, sein Riechorgan beflügelte (für die Mediziner unter Euch: den Tractus Olfactorius, der zur Perzeption direkt in der Hirnrinde endet?). War Nino gar ein kleines Monster? Ich schmiegte mich an ihn, versuchte so, ihn ein wenig zu beruhigen. “Ich bin nur Deine Erzählerin, weisst Du, nur Deine Erzählerin.” Jetzt wollte ich ihn auch. Nino duftete nach Body Lotion, und ich stellte mir vor, wie seine Mutter ihn liebevoll einrieb, Tag für Tag, ohne eine einzige Stelle seines Jungenkörpers auszulassen. Ninos Lippen suchten meinen Hals; dann knabberte er an meinem Ohrläppchen. So viel differenzierte Zärtlichkeit? Ich spürte, wie meine Nippel sich aufrichteten, gegen meinen Willen eigentlich. Nino zog mich an sich und strich mit seinen grossen Händen über meine Hüften. Er befühlte den dünnen Stoff meines Rocks. “Wunderbar”, brummte er, “einfach wunderbar”. Dann trat er ein paar Schritte zurück und liess sich mit einem leisen Stöhnen auf sein Bett fallen. Unerwartet schnell öffnete er die zwei Knöpfe an seiner Pijamahose. Sein stattlicher Penis raubte mir den Atem. Sein Zentralorgan schien vor Erwartung zu pulsieren; Nino harrte meiner. Ich baute ihm eine Brücke und setzte mich auf ihn. “Bluse öffnen”, flüsterte er. Beim Anblick meiner nackten Brüste gingen ihm fast die Augen über. Ich musste mich ein wenig dehnen, um ihm den Raum zu verschaffen, den er in meinem Innern benötigte. Dann nahm alles seinen natürlichen Lauf. Ich ritt ihn sanft. Zwischendurch deckte ich ihn spasseshalber zu, mit meinem lindgrünen Rock, den Nino. Er musste sich vorkommen wie unter einer Glocke. Erst war er zurückhaltend, dann brach er aus ihm heraus, der Vulkan seiner Jugend. Ich hätte nicht mehr sagen können, wer wem die Sporen gab, ich ihm, oder er mir. Ich bevorzuge übrigens die Reitstellung, weil mir scheint, ich könne den Mann unter mir so besser kontrollieren. Ich bilde mir ein, seinen Orgasmus mit meinen Scheidenmuskeln zu steuern. Nino schien es nur um meine hüpfenden Titten zu gehen. Titties. Jaja, Titties. Dann verloren wir beide vollends die Beherrschung. Wir versanken in einem innigen Zungenkuss; je inniger er mit mir züngelte, desto intensiver wurde das Wärmegefühl in meinem Bauch. Das Bett quietschte, dass es eine Freude war. Die Tür in unserem Rücken hörten wir nicht. Erst ein hässliches Geräusch riss uns aus der Trance, das Geräusch einer zusammenbrechenden Frau, die dann mit dem Kopf auf dem Steinboden aufschlägt, knapp am Flokati vorbei. “Komm, wir gehen”, sagte Nino kurz, schnappte sich eine Unterhose aus dem Schrank und zwängte sich in seine Jeans. “Jahrelang hat sie mich als ihr Baby benutzt und von meiner Abhängigkeit profitiert, die Schlampe.” Seine Sprache schockierte mich ein wenig, immerhin lag da seine Mutter am Boden, blass und unscheinbar. Irgendwie tat sie mir leid. Aber Nino zog mich hinter sich her, griff sich eine dicke Brieftasche aus einer der Küchenschubladen, und wir traten ins Freie. “Seltsames Phänomen”, war einen Tag später in der Zeitung zu lesen. “Mutter, die über Jahre ihren aus psychosomatischen Gründen gelähmten Sohn gepflegt hat, kann sich seit gestern nicht mehr bewegen.
Ihr vormals immobiler Sohn hat sich mit einer beträchtlichen Geldsumme davon gemacht – in Begleitung einer jungen Frau. Signalement: (...)

[(c) by Anita I.]

Sonntag, 14. September 2008

Die Perlenkette

Sebastian Rothmeyer hatte einen Sinn für Details. Dieser Sinn erwachte bei ihm stets im Sommer. Nicht dass er im Winter nicht auch da gewesen wäre, der Sinn. Aber da waren sie gut verhüllt, die Frauen. Trugen Halstücher. Warme Socken. Stiefel. Stiefeletten im besten Fall. Im Sommer aber konnte er sich in ihre Nähe setzen. In der Strassenbahn. Im Sommer konnte er sich in aller Ruhe eine Meinung bilden zu den durchsichtigen BH-Trägern aus Plastik, die auf im Grunde schönen Frauenrücken Einschnitte hinterliessen. Schweisspickel im schlimmsten Fall. Zudem gemahnten ihn diese durchsichtigen BH-Träger, die den Käuferinnen als “unsichtbar” verkauft wurden, an billigen Latex-Sex. Darauf stand er nicht, der Sebastian Rothmeyer. Zudem ist “durchsichtig” und “unsichtbar” keinesfalls dasselbe, nicht wahr. Sebastian Rothmeyer sah ganz feudal aus mit seinem gelben Sommerhemd, dem Dreitagebart und dem goldenen Schneidezahn oben links. Nicht, dass die Frauen sich nach ihm umgedreht hätten – das gerade nicht. Aber zumindest mieden sie seine Nähe nicht. War die eine oder andere Frau seinem Sinn für Details zu stark ausgesetzt – etwa dann, wenn er seinen Blick aufs Höschen unter dem Jeans-Minirock richtete, ruckelte sie, unangenehm berührt, an ihrem offensiven Kleidungsstück. Sonst aber war alles in Ordnung, die Welt nahm ihren gewohnten Lauf mit Fussballdepression, Hagelstürmen über sensiblen Rosenbeeten und Balkonpflanzen und unterbrochenen Waffenstillständen.

Sebastian Rothmeyer wollte heiraten. Seine Luisa kannte er seit über zehn Jahren, und sie hatte ihm vor nicht allzu langer Zeit einen kleinen Jungen geschenkt, den er über alles liebte. Jetzt war sie wieder schwanger. Sebastian Rothmeyer hatte in einer “Brigitte” gelesen, dass es für eine Frau die Welt bedeutet, wenn ihr Partner den Antrag während einer Schwangerschaft stellt. Im Sommer. Der Bauch schon gross, die Brüste wohlgeformt, das Umstandskleid mit den gelben und blauen Blumen durchgeschwitzt, der Blutdruck im Keller. Und dann, aus heiterem Himmel, der Heiratsantrag. Eine Frau brauche so was, hatte in der Brigitte gestanden Sebastian Rothmeyer war kein böser Mann, beileibe nicht. Aber er hatte einen Sinn für Details. Den Heiratsantrag wollte er mit einer Perlenkette flankieren. Nun sind nicht etwa alle Perlenketten gleich – auch wenn das für Laien den Anschein haben mag. Da ist mal der himmelweite Unterschied zwischen Süss- und Salzwasserperlen zu beachten. Salzwasserperlen sind runder, eher für die Ewigkeit und somit zur Bestärkung eines Heiratsantrags gedacht. Nur Zuchtperlen sind erschwinglich. Die mit rötlichem Ton kosten ein paar tausend Euro weniger als die weissen, matt glänzenden. Auch das Preisgefälle ist bemerkenswert. Kann sich ein Käufer eine 1000-Euro-Kette leisten, liegt auch eine 2000-Euro-Kette drin. Kann er 2000 Euro auslegen, liegen auch 4000 Euro im Bereich des Möglichen. Als Schmankerl kommt dann noch der Verschluss dazu. Perlenketten werden im gut sortierten Handel ohne Verschluss verkauft. Zückt der Käufer verzückt die Kreditkarte, wird er in einem Nebensatz darauf aufmerksam gemacht, dass ohne Verschluss nichts geht. Weissgold? Mit ein paar Brilläntchen? Weitere 1000 Euro wechseln den Besitzer.

Von der Verkäuferin war Sebastian Rothmeyer hingerissen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie trug ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, wirkte ausnehmend gepflegt mit ihrem dezenten Lippenstift und den sorgfältig gezupften Brauen. Ihre ebenmässig geformten Zähne gaben Sebastian Rothmeyer den Rest. Er war Zahnarzt. Sie bat ihn, Platz zu nehmen. Klärte ihn über Unterschiede zwischen Süss- und Salzwasserperlen auf. Er lauschte nur ihrer Stimme. Stets wenn sie sich vornüber beugte um eine neue Kette auf die schwarze Samtunterlage zu legen, die sich vor ihm befand, konnte er einen Blick auf ihre Brust werfen. Nicht auf die ganze natürlich, aber auf den Teil, der frei wird, wenn eine Frau sich nach vorne beugt. Dann wirft der Ausschnitt nämlich Falten. Falten, die etwas offener sind, als Frau das eventuell will. Aber was soll´s. Sebastian Rothenmeyers Blicke oszillierten also zwischen Süsswasser, Salzwasser und Tittchen hin und her, und ihre Stimme war wie eine leichte Sommerbrise. “Wie sieht Ihre Frau denn aus?” hörte er sie fragen. “Äh... sie hat einen Hals”, hörte er sich sagen. “Ah ja?” lachte sie. “Einen Hals, so elegant die der eines Schwans. Etwa so wie Ihrer.” flirtete er. Die Verkäuferin errötete. Dann wurde dem detailversessenen Zahnarzt schwindlig. Die Verkäuferin lächelte ihm zu und erkundigte sich, ob sie ihm eventuell die wundervolle Salzwasserkette, die mit den grossen mattglänzenden Perlen für 3500 Euro, präsentieren sollte. Sebastian Rothmeyer schluckte leer. Draussen 31 Grad Hitze. Drinnen angenehme Kühle, Edelschmuck im spartanisch aber vornehm eingerichteten Juwelengeschäft, und diese Zauberfrau mit dem magischen Lächeln. Da Perlenketten, wie bereits erwähnt, nicht standardmässig über einen Verschluss verfügen, hob die Verkäuferin ihren rechten Arm und führte die Hand an ihren Nacken, um die Kette so zusammenzuhalten. Sie präsentierte Sebastian Rothmeyer ihre rasierte Achselhöhle und blickte ihn unverwandt an. Diese geile, geile Achsel! Viele Frauen bilden sich ein, ein sichtbarer String unter der tiefsitzenden Jeans sei für Männer ein Turn-On. In aller Wahrheit ist das starke Geschlecht aber achselversessen. Sebastian Rothmeyer starrte und starrte. “So schauen Sie doch auf die Kette”, lachte die Verkäuferin. Der Mann wirkte vollkommen ungefährlich, irgendwie durchgeknallt, aber sie war sich Männer gewohnt. Männer und ihre Reaktion auf weiblichen Sommerlook. Sebastian Rothmeyer stellte sie sich nackt vor. Vermutlich war ihr Busen nicht allzu gross – eine Handvoll oder so. Mit hochgehobenen Armen waren ihre Tittchen jetzt etwas straffer als im Normalzustand, passten sich den kleinen Bewegungen der Verkäuferin an. “Zeigen Sie mir noch diese Kette hier, die mit dem rötlichen Schimmer.” Die Verkäuferin tat, wie ihr geheissen, hob diesmal beide Arme nach hinten und präsentierte ihre gepflegten Achselhöhlen. Wie gerne Sebastian Rothmeyer sie gekitzelt hätte, nur ein ganz klein wenig, lässt sich hier kaum in Worte fassen. Nach sieben weiteren Perlenkettenpräsentationen entschied er sich für eine 5000-Euro-Variante, die sich von der 2- und der 3000-Euro-Variante in keinem noch so kleinen Punkt unterschied. Für Laien, versteht sich.

“Ich finde es wundervoll, wenn ein Mann seine Frau befriedigt”, sagte die Schöne, während sie Sebastian Rothmeyer die Tür öffnete – und entliess ihn ins Freie. Dann konnte sie nicht anders. Sie war leicht erhitzt und hätte sich diesem attraktiven Dreitagebartmann mit den Feueraugen noch stundenlang präsentieren können. Es war mittlerweile 19:00 Uhr. Sie schloss die Ladentür ab, ging nach hinten in die kleine Werkstatt, in der sich Utensilien wie Perlenfaden, Feilen, Messerchen und Scheren befanden, machte es sich auf einer kleinen Liege gemütlich und schenkte sich “une petite mort.”

Sebastian Rothmeyer tat dasselbe in der nächstgelegenen Männertoilette. Dabei stellte er sich die wundervollen Achseln der Verkäuferin vor. Nur mit Mühe konnte er “danach” seinen Pimmel wieder verstauen und erinnerte sich plötzlich daran, dass er seiner Luisa einen Heiratsantrag machen wollte.

[(c) by Anita I.]

Sonntag, 7. September 2008

Die Schaufensterpuppe

Lächelnd, aber kühl und unnahbar stand sie da, den einen Arm auf eine undefinierbare Schaufensterrequisite aufgestützt. Ihre Lippen waren zartrosa geschminkt und halb geöffnet. Ausdrucksvolle Augen, Schlafzimmerblick. Ihre dunkelblonden, gelockten Haare umrahmten ein weich gezeichnet Gesicht und wallten über die nackten Schultern. Ihre Brüste waren von einem kurzen, hellblauen Hemdchen knapp bedeckt; ein gleichfarbiger Slip, der schon bald keiner mehr war, verhüllte die Schamgegend. Smyrna – nennen wir sie so – war vom Geschäftsinhaber dazu bestimmt worden, zwischen netzstrumpfbekleideten, angewinkelten, abgetrennten Beinen für hauchzarte Unterwäsche zu werben – ein meiner Ansicht nach völlig sinnloses Unterfangen, da man tagsüber das teure Dessous ja doch nicht zu sehen bekommt. Zudem hat mich mein Mann am liebsten nackt.
Nein – das Besondere an Smyrna war nicht das, wofür sie werben sollte, sondern die unwahrscheinliche Anziehungskraft, die sie auf unschuldige, gedankenversunkene Passanten ausübte. Die Phantasien, die sie weckte, gebe ich hier lieber nicht wieder; ich möchte zu dieser Erzählung auch vor meinen Kindern und Kindeskindern noch stehen können.
Manch einer opferte fünf oder zehn Minuten seiner Mittagspause, bloss um an Smyrnas Schaufenster zu lehnen und so zu tun, als warte er auf jemand. Andere wieder verlängerten ihren Arbeitsweg, um frühmorgens einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen; vielleicht auch, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Immer häufiger konnte man auch beobachten, wie während des Abendverkaufs verärgerte Frauen ihre Männer energisch vom besagten Schaufenster wegzogen, genau so, wie Mütter ihre Söhne manchmal von der Spielwarenabteilung wegzerren.
Ich muss zugeben: Auch ich war fasziniert von Smyrna. Ihresgleichen hatte ich noch nie in einem Schaufenster stehen sehen – und neulich hatte ich sogar das Gefühl, dass ihre Augendeckel leicht bebten.
Trotz der eingangs erwähnten Sinnlosigkeit (in meinen Augen!) von Smyrnas Unterwäsche fand besagte Garnitur seit Wochen reissenden Absatz – Kunden waren ausschliesslich Männer, die vordergründig ihren Frauen zuhause eine kleine Freude bereiten wollten und hintergründig irgendwann in der Nacht ihre private, kleine Smyrna vögelten.
Die Schaufensterpuppe erzeugte sogar Hassgefühle: bei den Frauen, die ihre Männer schon zum dritten- oder viertenmal von Smyrna wegziehen mussten. In einem besonders tragischen Fall kam es sogar zur Scheidung: Es handelte sich um ein Paar, das seit vielen Jahren glücklich zusammen lebte, bis er die Schaufensterpuppe auf dem Weg zur Arbeit zum ersten Mal sah. Besagter Mann war von Natur aus eher scheu. Da er in der Mittagspause den Betrieb nicht verlassen durfte – er war Hilfskoch – verlängerte er am Abend jeweils seinen Nachhausweg, um beim ominösen Strumpfgeschäft vorbeizuschauen. Dies bedeutete für ihn aber, dass er jeweils den Zug verpasste und seine Frau mit dem Abendessen auf ihn warten musste.
Irgendwann kamen ihr seine ständigen Entschuldigungen verdächtig vor, und sie entschloss sich, ihrem Mann nachzuspionieren. Vor dem Strumpfgeschäft kam es dann zur Explosion: Die Frau erfasste die Zusammenhänge sofort, schoss aus ihrem Hinterhalt, einer Litfasssäule, hervor und zertrümmerte vier von sechs Hühnereiern an den Glasscheiben des Strumpfgeschäfts. Die beiden letzten, die sie, bebend vor Wut, aus ihrer Einkaufstasche hervorkramte, zerklatschte sie auf dem Kopf ihres verdutzten Mannes.
Lächelnd, aber kühl und unnahbar wandte sich Smyrna um, verliess mit wippendem Gang ihr Schaufenster und ward nicht mehr gesehen.

[(c) by Anita I.]