Sonntag, 23. März 2008

Erna

Erna war Kioskverkäuferin. Sie wartete im Bus auf die nächste Haltestelle, müde von der immer gleichen Kundschaft. Seit über 10 Jahren versah sie ihren Dienst im Häuschen beim Bahnhof und war hinter all den bunten Magazinen, Schlagzeilen, Teddybärenanhängern, Zigarettenpackungen, Feuerzeugen, Kaugummi- und Chupa Chups-Auslagen kaum zu sehen. Ein unauffälliger Trenchcoat bedeckte knapp ihren Hintern; einen Hintern, der durch all die abgesessenen Kioskstunden immer breiter geworden war. Erna hatte in den vergangenen Jahren ständig etwas zugenommen – da half auch das wöchentliche Training in der Damenriege nicht. Klar, sie bewegte sich sonst ja kaum, und die Abende und Wochenenden verbrachte sie oft allein vor dem TV. Die Zeit, in der sich noch Männer nach ihr umgesehen hatten, lag weit zurück. Erna hatte eigentlich ein heiteres Gemüt, aber die ereignislosen Jahre am Kiosk hatten ihr zugesetzt. Endlich in ihrer kleinen Wohnung an der Burgunderstrasse angelangt, schob sie ein Schlemmerfilet in die Mikrowelle. Dann nahm sie die halbleere Wodkaflasche aus dem Eckschrank. Das harte Getränk gab ihr das Gefühl, weit weg zu sein, irgendwo, wo alles besser war als hier. Erna ging seufzend ins Schlafzimmer und zwängte sich in ihre Leggings. In den Wandspiegel mochte sie gar nicht erst schauen, aus Angst, weitere Fettringe zu entdecken. Die Trainingshalle befand sich ganz in der Nähe. Erna musste sich beeilen, wenn sie pünktlich sein wollte. Sie ertrug die Blicke all der Frauen nicht, wenn sie zu spät kam.
An der Ampel musste sie einen Augenblick warten. Der junge Mann war ihr zwar aufgefallen, aber Erna blickte verkrampft geradeaus. “Entschuldigen Sie, ich bin Künstler – äh, Kunststudent und suche ein Modell.” Erna wurde heiss und kalt zugleich. Sie fühlte sich hässlich in ihren lindgrünen Leggings, hatte absichtlich einen langen Mantel angezogen, und dann das! Sie hatte nicht lange Zeit zum Überlegen. Er wirkte freundlich, zugleich etwas scheu. Das gefiel ihr. “Meine Dachbude ist gleich da drüben.” “Sind wir hier in Paris oder wo?” schoss es Erna durch den Kopf. Sie kannte sich nicht wieder, als sie zusagte. Der Student stellte sich als Detlef vor; er verbrachte in Bern ein Kunstsemester. Erna folgte ihm kurzatmig die vielen Treppen hoch. “Was tue ich hier?” hämmerte es die ganze Zeit in ihrem Kopf. Zuoberst angekommen, war sie endgültig ausser Atem. Der kleine Raum war übersät mit angefangenen Skizzen, Kohlestiften, Ölfarbe, Pinseln, und der einzige Aschenbecher war mit Zigarettenstummeln angefüllt. “Sind wir hier in Paris oder wo?” fragte sich Erna erneut. Mit einem Mal war ihr mulmig zumute.
Würde sie sich ausziehen müssen? Bloss nicht! Sie konnte sich ja selbst nicht ausstehen. Detlef wandte sich ihr zu. “Eine Zigarette?” Erna nahm dankend an. Glücklicherweise riss er im selben Moment das kleine Fenster auf; der kalte Rauch war widerlich. Erna sah sich schon auf dem klapprigen Ikea-Bett ausgestreckt, den einen Arm angewinkelt, und Detlef, der, halb von der Staffelei verdeckt, Skizzen entwarf. Skizzen von ihrem fülligen Körper, Skizzen von ihren Rundungen, Skizzen von immer neuen Stellungen. Erna
entdeckte in sich etwas ganz Neues: die Lust, sich zu zeigen, hier, in dieser kleinen Dachbude. Sie fühlte, dass sie ihren Körper im Grunde mochte. Erna war fasziniert von diesem deutschen Studenten, der sich völlig unaufdringlich von ihr abwandte und sich mit ruhigen Bewegungen an den Malutensilien zu schaffen machte. Er zückte einen Kohlestift und wandte sich ihr zu. Ernas Herz klopfte bis zum Hals.
“Ihre Nase. Ich möchte Ihre Nase skizzeren.”

[(c) by Anita I.]

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