Sonntag, 7. Februar 2010

Gaitana

Nein, als fett bezeichnen kann man Gaitana keineswegs. Vielleicht sind ihre Hüften etwas breit; und ihre Oberarme sind wohltuend rund. Gaitana wiegt 70 kg und ist 1.75 m gross. Ihr Hintern… meinetwegen, hier könnte sie noch etwas abspecken; zudem ist im Seitenprofil ihr Bauch gut unterpolstert.
Vermutlich hat sie Hängebrüste. Aber fett… nein. Ich habe Gaitana eher zufällig kennengelernt – auf einer ersten Shopping-Tour durch Detroit. So was tut hier eigentlich kein Mensch – zum Shoppen ist die gigantische Shopping Mall da, die etwas ausserhalb der Stadt liegt. Aber ich, konservative – und etwas sentimentale – Europäerin, die ich bin, habe mich durchgesetzt für diese in Amerikaneraugen etwas exotische Einkaufstour. Klar kann man shoppen in Detroit – wenn einen die leerstehenden Fabrikhöfe, die betrunkenen Schwarzen, die auf den Gehsteigen sitzen, und die käsegesichtigen Verkäuferinnen nicht depressiv machen. Gaitana war anders. Strahlend stand sie mitten im kleinen Strumpfgeschäft und wandte sich augenblicklich mir, der einzigen Kundin, zu. „Can I help?“ Zu Strümpfen habe ich eigentlich ein gestörtes Verhältnis; zudem mag ich Nylon auf der Haut nicht besonders. Zu synthetisch. Bei bestimmten Anlässen erachte ich Strümpfe jedoch als zwingend; vor allem dann, wenn ich einen Jupe trage.
Ramax, Wolford… alles mehr oder weniger europäische Marken, stellte ich erstaunt fest. Säuberlich nach Marke, Grösse und Farbe sortiert fand ich in diesem kleinen Laden so ziemlich alles, was eine Frau wie mich verschönern könnte – vor allem was die Beine anbelangt. „I am Gaitana.“ Auch daran musste ich mich erst gewöhnen – das Personal hier stellt sich oft vor, vertraulich, mit Vornamen – damit ist dann eine erste Verbindlichkeit gegeben. „I am Suzie“, log ich. „Suzi Quatro happens to live in Detroit“, strahlte sie. “Rock’n roll, you know...” und dazu schwenkte sie fröhlich ihren ausladenden Hintern. Sie gestattete mir, drei Paar Strümpfe anzuprobieren und wartete vor der engen Garderobe. Endlich war ich mit meiner Wahl zufrieden: dunkle Ramax-Strümpfe für die „Frau von Welt“. „Hey!“ sagte Gaitana traurig, „you got such a tight body! Men must love that. Look at that cute little ass...” Sie selbst fühle sich nicht nur fett, sondern sei es auch, seufzte sie und klatschte sich auf die Pobacken. In der Arbeiterklasse hier gäbe es allerdings welche, die solche Frauen wie sie mögen würden, fügte sie an, wenn auch… Gaitana verstummte und blickte verlegen zu Boden. Ich bezahlte mit Kreditkarte – in den USA ist Bargeld so gut wie nicht mehr vorhanden – und verabschiedete mich. Gaitana rief mich zurück. „Hey… wanna have fun tonight? Come see me at Beavers’”, lud sie mich ein und drückte mir eine Visitenkarte in die Hand. Erst beim näheren Hinschauen dämmerte mir, was dieses „Beavers’“ sein könnte. Neben der Anschrift von „Fat Gaitana“ – dies war wohl ihr Künstlername – prangte die Skizze einer nackten Frau mit gespreizten Beinen. Nachdenklich durchquerte ich das belebte Viertel. Am Abend hatte ich tatsächlich noch nichts los – welch ein Luxus für mich: einfach mal nichts vor zu haben. Ich beschloss, das besagte „Beavers’“ erst mal zu inspizieren und mir ein Bild zu machen, worauf ich mich da einliess. War Gaitana Tänzerin? Eine dieser… und: Schämte sie sich denn nicht vor mir? Das war doch eher Männersache, diese Tabledance-Shows – hatte ich da überhaupt etwas zu suchen? Ich beschloss, trotzdem hinzugehen, weil es ja zu meinen Aufgaben hier gehört, die Abgründe einer industriellen Agglomeration zu erforschen.
Ein eigentliches Rotlichtviertel gibt es in Detroit City nicht – dafür aber unzählige Bars, die unter 25 Jahren gar nicht erst betreten werden dürfen.
Für mich ist diese Doppelmoral hier ohnehin irritierend: Prüderie bei den Altersbeschränkungen, was Alkoholkonsum anbelangt, andererseits darf an College-Parties jede(r) tun und lassen, was er (sie) will. Das „Beavers’“ befand sich in einem unauffälligen Gebäude mitten im Stadtzentrum. Die Klimaanlage funktionierte nur zu gut; mich fröstelte als ich ein Ginger Ale bestellte. Im hinteren Teil des Raumes befand sich tatsächlich eine kleine Drehbühne, die mit Scheinwerfern umstellt war. „Tonight: Fat Gaitana on stage“, verhiess eine neonfarbene Leuchtschrift über dem Tresen. Natürlich nahm ich die Männerblicke um mich herum wahr. Viele von ihnen wirkten einsam und neigten sich mit verlorenem Blick über ihren Scotch. Worauf warteten sie alle? Eine Beatles-Zeile kam mir in den Sinn: „All the lonely people – where do they all come from?“. Der Zeiger rückte. 17.00 Uhr. 18.00 Uhr. 20.00 Uhr.
Ich drehte zwischendurch ein paar Runden draussen und kam dann wieder ins „Beavers’“ zurück um mich aufzuwärmen. Der Bus nach Dearborne Heights, wo ich zurzeit wohne, kam eh nur selten – zweistündlich oder so. Da hätte sich ein Zwischenaufenthalt bei meiner Gastfamilie kaum gelohnt – zudem wollte ich den bohrenden Fragen ausweichen. Intuitiv wusste ich: Das „Beavers’“ war nicht für Frauen wie mich bestimmt. 21.00 Uhr. Wenige Pärchen bewegten sich jetzt auf der Tanzfläche – die kleine Drehbühne reichte ihnen. Rod Stewart ist mit seinen neuen amerikanischen Songs überall zu hören hier. Wie sie sich aneinander schmiegten… mir wurde heiss und kalt zugleich – und kleine eisige Pfeile der Einsamkeit trafen mein Herz. Dann wurde es ruhig.
Gespenstisch ruhig. Aus den einsamen Männern um mich herum wurden suchende Wölfe, Panther, vielleicht war sogar die eine oder andere Schwarze Mamba dabei. Alle scharten sie sich um die kleine Bühne, die jetzt rot beleuchtet und leer war. Und dann sah ich sie. Gaitana. Wie schön sie war mit ihrem farbdurchwirkten Tuch über den Hüften. Ihr Oberkörper war nackt; die Brustwarzen vermutlich geschminkt. Und dann begann sie zu tanzen. Klar ist auch Shakiras Hüftschwung faszinierend. Gaitana wirkte aber wärmer, weiblicher. Den arabischen Bauchtanz, den sie da hinlegte, liess sogar meine
Kehle austrocknen. Dieses laszive kleine Luder! Mit Zeitlupenbewegungen brachte sie die Männer zum Kochen – sie wirkten auf mich wie ein Rudel gieriger Hunde. Gierig nach Gaitanas runden Oberarmen vielleicht, ihrer Stimme, ihrer Seele… viel eher aber nach Gaitanas Titten, ihrer Möse und ihrem Arsch. Um es nicht noch spannender zu machen: Unter dem Hüfttuch war sie nackt. Für Bruchteile von Sekunden lüftete sie den Umhang und gönnte den Zuschauern (und den wenigen Zuschauerinnen, die eben noch getanzt hatten) einen Blick zwischen ihre Beine. Wie zufällig bewegte sie ihren Arsch auf eine kleine Gruppe von Männern hinter ihr zu – um von Wortfetzen wie „cute ass!“, „suck me, baby“ und „wanna see your cunt“ angeheizt zu werden.
Offensichtlich war Gaitana strunzgeil. Ob sie gesoffen hatte? Zuerst wich sie den Männerhänden, die sich nach ihr streckten, noch aus. Dann liess sie sich berühren, befummeln und begrapschen. Warum bloss liess sie das zu? Ich staunte und bestellte einen Gin. Wie kunstvoll sie sich bewegte! Sie hatte tatsächlich Hängebrüste und drückte sie zur Freude der Männer zusammen, was ihnen jedes Mal ein Johlen entlockte. Wie ordinär… dachte ich mir in solchen
Augenblicken – wie erniedrigend und doch erregend… Endlich liess Gaitana ihr Tuch fallen. Ihre ganzen 70 kg und ihre 175 cm gab sie preis – allerdings ohne ihre Würde zu verlieren, wie ich feststellte. Diese Frau musste nackt sein, sie musste diese arbeitslosen Männer erregen, sie war dazu geboren, dass man sich an ihr aufgeilte. Dann wurde die Musik leiser. Ein kugelrunder Typ mit Sonnenbrille und Polohemd hinter dem Tresen griff zum Mikrofon. „She is ready now. She is a horny bitch. Tell her what you wanna do to her, lads!” Ein Typ, der George W. Bushs’ Zwillingsbruder hätte sein können, betrat die Drehbühne. Ein kabelloses Mikrofon wurde ihm gereicht. „Get on your knees, baby, show us your cunt!” Gaitana tat wie geheissen – erneut ohne ihre Würde zu verlieren. Wer die Würde trotz seinerCowboystiefel verlor, war George Bushs’ Zwillingsbruder. Er stellte sich hinter Gaitana und blies Rauchringe durch die Nase. „Wanna smoke, baby?“ fragte er, ging in die Knie, spreizte den Hintern der üppigen Mexikanerin und schob ihr seinen Glimmstengel zwischen die Schamlippen. „Now… show us what you can do!“ forderte er sie auf, und tatsächlich: Gaitana liess ihre Muskulatur spielen und „blies“ Rauchringe ins Publikum. „Ahhh…“ Der Typ neben mir griff sich zwischen die Beine. „I luv that pussy smoke show!“ stöhnte er und rieb an seinen Jeans. Ich rekapituliere kurz: Da befand ich mich, nach einer langen Flugreise, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und zwar nicht etwa im internationalen New York oder im sattsam bekannten Los Angeles, sondern in Detroit, einer typisch amerikanischen Industriemetropole. Freiheit stand auf
die US-Flagge geschrieben, Offenheit und Weite war das Credo der Amis. Und da standen sie nun, Uncle Sam’s Söhne, dicht gedrängt in einer einfachen Kneipe mit einer wackligen Drehbühne und freuten sich wie kleine Jungen an einer Mexikanerin, die mit Hilfe ihrer Beckenbodenmuskulatur Rauchringe ins Publikum blies. Alles Weitere ist rasch erzählt. Die Initialzündung war erfolgt, jetzt gab es kein Halten mehr. Sie vögelten Gaitana mit den Hälsen ihrer Bierflaschen, melkten ihre schweren Brüste, schoben ihr dicke Amischwengel zwischen die Lippen. Die meiste Zeit über hatte Gaitana die Augen geschlossen. Nur hie und da zuckte sie zusammen, dann nämlich, wenn ein besonders gemeiner Kerl seine Zigarette auf ihrem Hintern ausdrückte. An mir hatte sich bisher noch keiner vergriffen – sie drängten alle zur Bühne.
Bald darauf war der erste in ihr. Mit hautengen Jeans stand er hinter ihr, hatte die Hutkrempe tief ins Gesicht gezogen und bretterte los. Anders kann ich das nicht nennen. Gaitana gab kurze spitze Schreie von sich. Kurz darauf wurde der Cowboy unsanft beiseite gestossen. „Let ME do it now!“ Es mochten so an die fünfzig Männer sein mittlerweile. Wieviele Schwänze erträgt eine Frau? Am TV fand ich diese Gang Bangs stets abstossend, ekelerregend und pervers. Aber hier, mitten in dieser unbeschwerten Stimmung, wurde ich gegen meinen Willen mitgerissen. Die kleine Drehbühne dampfte. Gaitana streifte mich kurz mit ihren tiefen, schönen Augen. Wie liebevoll sie sich für diesen Abend zurechtgemacht hatte! Die kleinen Ohrringe unterstrichen ihre Schönheit; die Wirbelsäule nahm sich im Halbschatten wie eine Skulptur aus.
Sie lächelte mich an. Es war das traurige Lächeln einer Frau, die noch nie etwas anderes gesehen hat als abgefahrene Autoreifen, Käsespray aus Metalldosen und Bierflaschen, die nur zu dem einen Zweck produziert wurden, ihre Löcher zu stopfen.
Betreten verliess ich das Lokal und erwartete in der Schweinekälte meinen Bus. Tags darauf besuchte ich Gaitana in ihrem Strumpfgeschäft. “Can I help?“ fragte sie mich. „I am Gaitana…“.

[(c) by Anita I.]

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